Vortrag von Ainsley Hawthorn – The Shifting Gaze: Vision in the Neo-Assyrian Royal Inscriptions

Ein Beitrag von Nadine Gräßler.

Wie haben die Menschen des alten Orients das Sehen verstanden? Und wie wurde es in textlichen und bildlichen Hinterlassenschaften verarbeitet? Diese und weitere Fragen beantwortete Dr. Ainsley Hawthorn, Alumna der Universität Yale, am 2. Februar 2017 in einem Gastvortrag zu den Konzepten des Sehens im alten Orient.[1] Sie ergänzte damit ein Thema, das im GRK durch das im letzten Jahr abgeschlossene Dissertationsprojekt von Nadine Gräßler zu Konzepten des Auges für das alte Ägypten bearbeitet wurde, wodurch sich eine interdisziplinäre Sichtweise ermöglichte.
 
Detail der Statue des Ebih-Il, ca. 2400 v. Chr. (Louvre, AO 17551). Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ebih-Il_Louvre_AO17551_n11.jpg; (c) Marie-Lan Nguyen.
 

"Sensory Studies" in den Altertumswissenschaften

Zu Beginn ihres Vortrags machte Ainsley Hawthorn auf den "Sensory Turn" aufmerksam, der seit einiger Zeit in den Kulturwissenschaften Thema ist.[2] Die "Sensory Studies" beinhalten neben der kulturwissenschaftlichen Untersuchung der Sinne und der Wahrnehmung auch die Analyse der Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis durch sinnliche Wahrnehmung. Auch in den Altertumswissenschaften sind Studien zu den Sinnen, der sinnlichen Wahrnehmung und im Zuge dessen auch der Beschreibung von Emotionen derzeit aktuell: Wie verstehen Menschen ihre Wahrnehmung und wie unterscheidet sich dieses Verständnis in der jeweiligen Kultur oder geschichtlichen Epoche? Für viele der in den Altertumswissenschaften verorteten Kulturen muss bei der Untersuchung der Sinne beachtet werden, dass wir heute nur einseitigen Zugang dazu haben. Das heißt, wir können nur aus schriftlichen und bildlichen Hinterlassenschaften schöpfen und dadurch zum Beispiel Konzepte des Sehens im alten Orient oder Ägypten rekonstruieren; wir werden jedoch nie ein komplettes Bild dieser Konzepte bekommen, da diese Hinterlassenschaften zufällig sind und nicht die komplette Kultur abbilden.
 

"Aktives" und "passives" Sehen

Im Fokus von Ainsley Hawthorns Vortrag standen die Verben des Sehens in den neuassyrischen Königsinschriften. Zunächst stellte Dr. Hawthorn die akkadischen Verben des Sehens vor. Hier stellte sich heraus, dass im alten Orient zwischen "nach innen" und "nach außen" gerichtetem bzw. passivem und aktivem Sehen unterschieden wurde. Dieses aktive Sehen wird durch das Verb naplusu(m) ausgedrückt. Ähnlich finden wir dies heute auch im Englischen, das "gaze" ("Starren"), den aktiven Blick, von "sight" ("Sehen"), dem passiven Blick, trennt. Im Gegensatz zu heute besaßen aber den aktiven Blick in Mesopotamien nur die Götter, wodurch sie sich ganz klar von den Menschen unterschieden, für die in den textlichen Hinterlassenschaften eher der "nach innen" gerichtete Blick belegt ist. Die übermenschliche Qualität der Götter wird somit hervorgehoben.
Auch in den neuassyrischen Königsinschriften stand der Blick der Götter im Vordergrund. Er wurde in den Inschriften stilvoll als Propagandamittel eingesetzt, um das Wohlwollen der Götter für den jeweiligen König auszudrücken.
Ein abschließender Vergleich mit den Sehverben in Briefen zeigte, dass sich das Vokabular zum Sehen von dem in den neuassyrischen Königsinschriften unterscheidet, da eine andere prozentuale Verteilung der Verben bezeugt ist. Je nach Textsorte und Kontext wurden also verschiedene Verben des Sehens eingesetzt.
 

Universalität vs. Spezifität und die Frage nach den "Sinnen"

Interessanterweise konnte Nadine Gräßler in ihrer Dissertation ganz ähnliche Vorstellungen eines aktiven und passiven Sehens für das alte Ägypten erarbeiten, das jedoch innerkulturell anders verarbeitet wurde.[3] Es scheint sich um eine unabhängig voneinander entstandene Vorstellung zu handeln, die auch noch in anderen antiken Kulturen zu finden ist (zum Beispiel im antiken Griechenland), von Kultur zu Kultur jedoch spezifische Ausprägungen beinhaltet.

Ein weiterer Punkt, den Ainsley Hawthorn ansprach und der auch in der Diskussion eine Rolle spielte, war die Frage nach der Klassifikation der Sinne. Heute fassen wir unsere fünf Wahrnehmungsorgane unter dem Oberbegriff "Sinne" oder "Sinnesorgane" zusammen. Zu diesen zählen wir die Augen (zum Sehen), die Ohren (zum Hören), die Nase (zum Riechen), den Mund (zum Schmecken) und die Haut (zum Fühlen). Diese Einteilung muss in vormodernen Kulturen jedoch nicht zwangsläufig der Fall gewesen sein. Im alten Orient existierte der Begriff "Sinne" bzw. "Sinnesorgane" zum Beispiel überhaupt nicht. Dies gilt auch für das alte Ägypten. (Sinnes-)Wahrnehmung wurde also in beiden Fällen unterschiedlich zu heute definiert. Diese Unterschiede aufzuarbeiten und aufzudecken unterstreicht die Wichtigkeit der "Sensory Studies" in den Altertumswissenschaften.
 
Fußnoten:
[1] Das Thema stellte eine Erweiterung ihrer 2012 abgeschlossenen Dissertation "Catching the Eye of the Gods: The Gaze in Mesopotamian Literature" dar.
[2] Für Interessierte eignet sich als Einstieg gut der Artikel von David Howes, "The Expanding Field of Sensory Studies",
http://www.sensorystudies.org/sensorial-investigations/the-expanding-field-of-sensory-studies/.
[3] Dissertationsprojekt von Nadine Gräßler: Konzepte des Auges im alten Ägypten.
 

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